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Ungarn - Das Land der Dichter und Denker hat ein Problem

Ein gemeinsamer Beitrag der Schüler der Klasse 9b, zusammengesetzt von Andree Müller

"Zeitung in der Schule" ist ein Projekt für Schüler, die Interesse am Lesen und Schreiben von Artikeln haben. "Zeitung in der Schule" ist ein Projekt für Schüler, die recherchieren und analysieren wollen. Aber "Zeitung in der Schule" ist auch ein Projekt für Europa, für Freundschaft und für Verständnis. Den besten Beweis dafür hat die Klasse 9b des Kaiserin-Auguste-Viktoria Gymnasiums in Celle erhalten, bzw. auch erbracht. Von allen unerwartet teilt der Klassenlehrer Rolf Schmalhorst den Schülern etwas mit: "Wir haben Post bekommen. Aus Ungarn." Aus Ungarn? Einige Schüler schütteln verwundert den Kopf, andere haben schon eine vage Vermutung, von wem der Brief sein könnte. Schließlich nehmen ja nicht nur deutsche Klassen an "Zeitung in der Schule" teil. Nein, es ist ja ein Projekt für Europa. Ein Projekt für Freundschaft. Und gerade dies wollen anscheinend auch die Schreiber aus Ungarn vermitteln. Bei denen handelt es sich nämlich um die "ZiSch"-Gruppe des Gymnasiums Tolnai Lajos in Gyönk. Sie tun den ersten Schritt, bieten den überraschten Cellern ihre Freundschaft an, strecken ihre Hand aus. Und die Celler schütteln sie. Schon einige Zeit später treffen die von ihnen gefertigten Steckbriefe in Gyönk ein, werden dort freudig empfangen. Die ersten Briefkontakte entstehen. Erst herrscht anfängliche Unsicherheit, dann findet man zueinander. Interessen werden ausgetauscht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede gefunden. Die Gyönker und Celler fertigen eigene Seiten für das Internet an, in denen sie sich einander vorstellen. Die Barriere ist endlich gebrochen und jeder hat einen oder mehrere neue Freunde gewonnen. Die beiden Gruppen entschließen sich zur gemeinsamen Arbeit für "Zeitung in der Schule". Die Gyönker entwerfen eigene Texte zum Thema "Europa in 50 Jahren" und geben den Cellern neue Ideen und Ansporn. Diese möchten gern die ungarische Küche genießen und wünschen sich Kochrezepte von den anderen. Dann kommt den Schülern aus Celle etwas neues in den Sinn: Ungarische Literatur. Schließlich werkeln sie an ihren Artikeln ja zumeist in den Deutschstunden, also warum sollten sie sich nicht mit Literatur beschäftigen, aber eben mit Ungarischer? Ein Plan wird auf die Beine gestellt. Die Stadt Celle soll ausgehört werden. Eine Umfrage über ungarische Literatur, über ungarische Autoren und über Ungarn selbst soll gestartet werden. Aber wo bloß anfangen? Systematisch werden die Kontaktpunkte ausgesucht: Buchläden, große Geschäfte und Institutionen, Straßen der Innenstadt und natürlich auch die Stadtbibliothek stehen auf der Liste. Also werden Fragen ausgedacht, Testbögen entworfen, die Bleistifte gespitzt. Und los geht es! Objektiv und gelassen gehen die Schüler die Sache an, lassen sich Zeit bei ihrer Fragerei. Kein Kommentar von unfreundlichen Leuten kann sie erschüttern, denn sie haben ja einen Auftrag. Am nächsten Tag, die Ergebnisse ihrer Umfrage in der Tasche, sitzen die Schüler wieder im Unterricht. Erwartungsvoll sitzt der Lehrer an seinem Pult und bittet die erste Gruppe, von ihren Erfahrungen zu berichten. "Wir, also Sina, Julia und ich, standen bei der C&A-Filiale und haben dort die Leute befragt", erzählt Kristina. "Die meisten Befragten wichen unseren Fragen aus, mit dem Vorwand, keine Zeit zu haben." Kopfnicken von vielen anderen Schülern: Sie haben die selbe Erfahrung gemacht. Kristina fährt fort: "Die zwischen 25 und 45 Jahre alten Befragten waren aber hauptsächlich deutscher Nationalität. Das waren auch die, die uns am wenigsten mitteilen konnten. Die einzige, die etwas über Ungarn wußte und die auch wußte, daß Ungarn Gastland bei der Frankfurter Buchmesse ist, war eine Finnin. Obwohl einige der Leute die Namen einiger ungarischer Autoren kannten, konnte uns niemand einen Buchtitel nennen, geschweige denn davon berichten, jemals eines dieser Bücher gelesen zu haben." Viele Schüler halten Kristinas Bericht für ein Deja Vu, einige tuscheln leise. Die nächste Gruppe ist dran. Nadine beginnt zu berichten: "Jasmin und ich haben Passanten in der Innenstadt befragt." Sie schaut auf ihren Zettel und liest die Daten vor: "Das Alter dieser Personen reichte von 29 bis 74 Jahre. Die meisten von denen wollten dieses Jahr ihren Urlaub auf Mallorca verbringen, dicht gefolgt von den USA, dann von Dänemark und Ungarn, beide gleich beliebt. Ein Drittel der Befragten war bereits in Ungarn, meistens aber die etwas älteren Leute, deren Besuche schon etwas zurückliegen." "Was fiel den Leuten denn so spontan zu Ungarn ein?" fragt der Lehrer Herr Schmalhorst. "Na ja, ziemlich viele Sachen, ich habe hier einiges aufgeschrieben: Balaton, Wein, Pußta, Plattensee, Musik, Czardas, Budapest, Gulasch, Pferde, schönes Wetter, schöne Frauen, fremde Kultur. Einige meinten, daß Ungarn groß im Kommen sei. Das waren auch meistens die Leute, die wußten, daß Ungarn Gastland bei der Frankfurter Buchmesse ist. Allerdings fiel nur einer einzigen Ausnahme ein ungarischer Autor ein und keiner der Befragten konnte sich daran erinnern, je ein Buch von irgendeinem ungarischen Autoren gelesen zu haben." Komisch, denken sich einige Schüler und blicken verdutzt auf ihre Fragebögen, irgendwie habe ich hier das gleiche stehen. Doch schon ist der Nächste am Zug und Jacob beginnt zu berichten: "Also, Andree und ich waren im Krankenhaus St.Josef-Stift und haben dort einige Leute befragt." Viel Zeit zum Lesen haben die Leute dort ja, so ans Bett gefesselt. Eigentlich haben sie die. "Die schienen dort nur wenig über ungarische Literatur zu wissen. Deren gesamtes Wissen begann bei Pußta und hörte auch bei Pußta schon auf - ihr Kopf schien genauso leer zu sein wie diese typische ungarische Landschaft, sie schalteten beim Thema Ungarn regelrecht ab. Viele waren überfordert von den vielen komplizierten Namen der Autoren und wirklich niemand wußte das mit Ungarn und der Buchmesse. Das war wirklich ein komplettes Desaster!" Keiner sagt mehr etwas. Bedrückende Stille herrscht mittlerweile in der Klasse, als Katja beginnt von ihren Erfahrungen zu berichten: "Also, ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, einmal Schüler verschiedener Altersgruppen der Mittelstufe unserer Schule zu befragen. Ich habe Fragen zu den Themen "Ungarische Literatur" und "Frankfurter Buchmesse" sowie zu Ungarn allgemein gestellt. Mich hat dabei sehr verwundert, daß die älteren Jugendlichen nicht etwas mehr über Ungarn wußten, denn es waren meist die Jüngeren, die mir einiges erzählen konnten und auch Antworten auf meine Fragen wußten. "Pußta" wurde zwar auch oft erwähnt, aber einigen fielen auch noch andere Dinge ein, z.B. Punda oder Trachten. Kaum einem sagten die Namen Balint Balassi, Jázbef Karona oder Magda Szabo etwas, niemand hatte je ein ungarisches Buch gelesen. Die wenigen, die schon mal in Ungarn waren, fanden es sehr schön, doch nur etwa die Hälfte hätte Interesse daran, auch einmal hinzufahren. Insgesamt ging aus meiner kleinen Umfrage hervor, daß hier einfach viel zu wenig über Ungarn bekannt ist." Zustimmendes Nicken einiger Klassenkameraden. Katja fährt fort: "Klar, jeder war schonmal in Frankreich, Spanien oder England, aber ich denke Ungarn wäre mal eine schöne Abwechslung, bei der man wirklich etwas Neues erleben kann." Das kennen wir ja jetzt schon, denken sich einige, ist ja nichts neues: Keine Ahnung über Ungarn, erst recht keine Ahnung über ungarische Literatur. Pure Ignoranz. Auch Maximilian und Henning haben so ihre Erfahrungen mit den Kenntnissen einiger Leute über Ungarn gemacht: "Der Geschäftsführer der Schulzischen Buchhandlung hat sich erst nach etwas Überreden dazu bereit erklärt, uns über Ungarn zu berichten. Eine große Hilfe war er jedoch nicht, denn er wußte auf keine Frage ein Antwort. Er wollte uns noch nicht mal glauben, daß Ungarn Gastland bei der Buchmesse sei. "Auf keinen Fall", meinte er. Kostenloses Informationsmaterial hatte er auch nicht da, das wurde uns patzig an den Kopf geworfen. Genauso schlau wie vorher haben wir die Filiale dann wieder verlassen." Herr Schmalhorst kann sich das gar nicht vorstellen und auch viele Schüler sind etwas erstaunt - ein Buchhändler, der von Tuten und Blasen überhaupt keine Ahnung hat, sprich der seinen Beruf nicht richtig ausübt? Die Celler hatten ja vieles erwartet, aber so etwas ist nun doch ziemlich derb. "Auch in der Buchhandlung Brandt erging es Jan und mir nicht anders", berichtet Alexander. "Nein ich habe keine Zeit", fuhr uns der Geschäftsführer zuerst an. Trotzdem durften wir Fragen stellen, auf die er aber zum Teil keine Antwort wußte. Noch nicht mal einen von uns genannten Autoren kannte er, ihm war nur die Teilnahme Ungarns an der Frankfurter Buchmesse bekannt. Aber die sei ja noch nicht aktuell, wir sollten mal besser Anfang September wiederkommen." Das kann ja wohl nicht wahr sein, schießt es einigen durch den Kopf. Langsam macht sich Empörung breit. Was ist Celle doch für eine weltoffene europäische Stadt. Einfach toll. Herr Schmalhorst setzt seine letzte Hoffnung nun auf die Buchhandlung Buchfink und ruft Stefan auf. Dieser berichtet: "Als Nils und ich zu Buchfink kamen, wollte der Geschäftsleiter erst nichts von uns wissen, hatte angeblich keine Zeit für uns. Doch nach einiger Zeit kam er auf uns zurück und überschüttete uns geradezu mit Informationen. Er beantwortete die Fragen tadellos und ratterte auf Kommando die verschiedensten Namen ungarischer Autoren runter. Der Mann schien ein wandelndes Lexikon zu sein. Er teilte uns auch mit, daß die Gestaltung der Schaufenster des Ladens dem Gastland Ungarn zur Zeit der Frankfurter Buchmesse angepaßt werde." Die Mienen vieler Schüler und vor allem die des Lehrers erhellen sich. Es scheint doch noch wissende Menschen zu geben, Menschen ohne "Ungarn - Pußta" - Assoziation. Doch ein dunkler Schatten huscht wieder über viele Gesichter, als die Schüler die Umfrageergebnisse von Nina zu hören bekommen: "Wir, also Nina Fiedler, Viora und ich, haben der Stadtbibliothek einen Besuch abgestattet. Wir dachten: Das Haus mit den meisten Büchern - das Haus mit den meisten Informationen. Falsch gedacht! Nachdem wir uns vorgestellt hatten, wurden wir gleich weitergewiesen. Nun standen wir vor einer circa 45jährigen Bibliothekarin, die schon zwanzig Jahre in der Bibliothek gearbeitet hatte und die uns zum Thema Ungarn kaum eine Antwort geben. Daß Ungarn Gastland bei der Buchmesse in Frankfurt ist, interessierte sie wenig, da sich die Bibliothek "damit nicht beschäftige". Sie wußte nur, daß die Bibliothek circa 20-30 ungarische Bücher führt, konnte aber spontan keinen Autoren oder Titel nennen. Zurück bei der Dame, die uns am Anfang zu der Bibliothekarin verwiesen hatte, bekamen wir doch noch einige Antworten. Obwohl diese Frau erst zwei Monate in der Bücherei arbeitete, konnte sie uns wenigstens einen ungarischen Autoren nennen." Alle Hoffnung ist verflogen, die Schüler sind deprimiert darüber, ihren ungarischen Freunden solche Ergebnisse präsentieren zu müssen. Da kann selbst der Bericht von Kathrin und Stella den schlechten Ausfall nicht mehr ändern, denken sich viele. Kathrin erzählt: ""Keine Ahnung" war anscheinend das einzige, was uns der Verkäufer in der KARSTADT-Filiale antworten konnte. Er wußte weder etwas über die Frankfurter Buchmesse, noch kannte er irgendwelche ungarischen Autoren oder Literatur. Er war zwar freundlich und nett, nahm sich nach kurzem Zögern auch Zeit für uns, doch ob es überhaupt Bücher von ungarischen Autoren in der Buchabteilung gab, konnte uns der gute Mann nicht sagen. Traurig aber wahr, bei KARSTADT sind Bücher nur ganz normale Verkaufsartikel, sonst nichts." Wirklich alles vernichtet. Die großen Stücke, die man auf die ansonsten so offenen Celler gesetzt hatte, die freudigen Erwartungen - alles weg, alles vergangen. Viele hatten mit einem schlechten Ergebnis gerechnet, aber so mies hatte es sich niemand vorgestellt. Es ist wirklich eine Schande, daß eine öde Landschaft bekannter ist als das Kulturgut eines gesamten Volkes. Aber vielleicht soll uns dieses negative Ergebnis zum Nachdenken anregen. Das Land der "Dichter und Denker" sollte vielleicht etwas mehr über das Dichten und Denken anderer grübeln und sich auch mal damit beschäftigen. Vielleicht sollten wir uns mit unseren europäischen Nachbarn etwas besser unterhalten. Vielleicht sollten sich alle einmal die Hände reichen und sagen: "Hey, wir sind Freunde." Denn die beiden Gruppen aus Gyönk bzw. Celle sind doch das beste Beispiel dafür, wie klein Europa geworden ist und wie gut Zusammenarbeit auf unserem Kontinent klappen kann, wenn wir alle etwas dazu beitragen. Das ist unsere Pflicht und unsere Zukunft.