Abruf

Mein Herz schlägt Links!

Oder: wie ich zur Politik kam

Ich bin Inga Stephan, 23 Jahre alt und komme aus Celle. Der eine oder die andere kennt mich vielleicht sogar: Ich habe 2009 mein Abitur am KAV gemacht. Inzwischen studiere ich Jura in Hannover und stehe kurz vor dem ersten Staatsexamen. Als ich gefragt wurde, ob ich für „meine“ alte Schule mal einen Bericht über meinen Weg in die Politik schreiben möchte, sagte ich natürlich sofort ja. Denn eins ist mir sehr wichtig: Politik ist nicht irgendwas weit Entferntes in Hannover oder Berlin für alte Männer in Anzügen – Politik ist direkt bei uns vor der Haustür und alle können mitmachen.

Gehen wir fünf Jahre zurück, etwa Februar 2008. Politik hat mich schon immer interessiert, deshalb habe ich es auch als Prüfungsfach gewählt. Wie der Bundestag gewählt wird, wie ein Gesetzgebungsverfahren funktioniert – das lerne ich im Unterricht. Aber wofür steht welche Partei? „Das gehört nicht in die Schule, da müssen wir den Lehrstoff durchkriegen!“, erklärt meine Lehrerin. So ist es wohl.

Zu dieser Zeit fällt mir ein Flyer für eine Veranstaltung der Celler Jusos in die Hände. Thema: „Was ist links?“ Gast: Franziska Drohsel, damals frischgebackene Bundesvorsitzende der Jusos. Eine Freundin und ich beschließen kurzerhand: „Da gehen wir hin!“ Und so sitzen wir eines Abends im jetzigen Mundo und hören zu. Ich bin beeindruckt von den Worten, mit denen alle um sich schmeißen. Maximilian Schmidt erklärt, dass das linke Original die SPD sei. Es geht um soziale Gerechtigkeit und Demokratischen Sozialismus. Was damit genau gemeint ist, ist mir damals ein Rätsel, aber zum Nachfragen bin ich zu schüchtern. Alle anderen scheinen zu wissen, wovon Franzi, Max, Rolf und Annette (bei der SPD duzen sich alle) da reden. Ziemlich abgefahren, denke ich. Meine Freundin denkt das auch. Interessant finde ich es trotzdem irgendwie. Voller Eindrücke gehen wir wieder nach Hause – ich werde wenige Wochen später, bei meiner ersten Landtagswahl, beide Stimmen an die SPD geben.

Trotzdem dauert es noch ein weiteres Jahr, bis ich mich entschließe, selbst politisch aktiv zu werden. Um mich herum sind alle meine Freunde damit beschäftigt, die letzten Tage bis zum Abitur zu zählen. Eltern und Lehrer mahnen, viel zu lernen. Die Zeitung ist voll von Berichten über Dirk-Ulrich Mende von der SPD und Susanne Schmitt von der CDU – denn in wenigen Wochen findet die Oberbürgermeisterwahl statt. Ich verfolge alles über die Zeitung. An wen meine Stimme geht, habe ich längst entschieden. Und dann ist Wahlabend: Mende gewinnt, für alle völlig unerwartet, im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit. Krass, denke ich. Die von der SPD können ja richtig was reißen, hier im konservativen Celle. Das beeindruckt mich und ich beschäftige mich mit den politischen Ansichten der SPD. Online fülle ich eine Beitrittserklärung aus und warte gespannt, wie es wohl weitergeht.

Ein paar Wochen später bekomme ich einen Anruf von der stellvertretenden Ortsvereinsvorsitzenden Katja. Sie lädt mich zum SPD-Stammtisch ein. Zwischen schriftlicher Abi-Prüfung in Mathe und mündlicher Prüfung in Politik bleibt genügend Zeit, dorthin zu gehen. Außer Katja kenne ich niemanden, alle sind mindestens 15 Jahre älter als ich – aber es wird ein lustiger Abend. Und ab dann bin ich dabei: Wahlpartys, Bundestagswahlkampf, Juso-Treffen, SPD-Stammtische, Seminare. Überall gehe ich hin und verschaffe mir einen Eindruck. Ich lerne die Leute kennen und verstehe mich gut mit ihnen, sogar einen alten Lehrer treffe ich wieder. Dann fragt mich Katja, ob ich nicht für den Ortsvereinsvorstand kandidieren möchte. Nach anfänglicher Überraschung denke ich: „Ja, klar!“ Und werde im März 2010 Beisitzerin im Ortsvereinsvorstand. Kurz danach auch Mitglied im Vorstand der Jusos im Landkreis. So geht es dann nicht mehr nur zu netten Klönrunden beim Stammtisch, sondern auch zu inhaltlichen Arbeitstreffen und Vorstandssitzungen. Was mich interessiert, mache ich mit. Inzwischen habe ich einiges an Wissen angesammelt und kann auch mit dem Begriff „Demokratischer Sozialismus“ etwas anfangen.

Und auf einmal, für mich wie aus heiterem Himmel, steht im Ortsvereinsvorstand im März 2011 die Kommunalwahl auf der Tagesordnung. Und es passiert etwas, was ich so gar nicht im Kopf gehabt hatte: Ich werde gefragt, ob ich nicht auch kandidieren möchte. Für den Ortsrat Hehlentor zum Beispiel oder vielleicht sogar für den Stadtrat. Ich frage diejenigen, zu denen ich inzwischen Vertrauen gefasst habe, nach ihrer Meinung und lasse mir von der Arbeit in den Gremien berichten. Ziemlich schnell stelle ich fest: Stadtrat, das will ich nicht. Ich will in den Kreistag! Mit einiger Unterstützung ergattere ich Listenplatz 2 für mein Wahlgebiet. Die Chancen stehen gut, ein Kreistagsmandat zu bekommen! Meine Sommersemesterferien verbringe ich fast ausschließlich mit Wahlkampf, wen interessiert schon die Hausarbeit in Zivilrecht? Nach der Wahl sitze ich am 3. November 2011 um 9 Uhr im Kreistagssaal. Ich bin „stolz wie Oskar“ – mit 21 Jahren die jüngste Kreistagsabgeordnete und dann auch noch Vorsitzende des Personalausschusses!

Pünktlich zu Weihnachten liegt der 600-seitige Haushaltsplan des Landkreises für das Jahr 2012 im Briefkasten. 600 Seiten? Soll ich lesen?! Niemals! Das ist ein krasser Schlag für mich: Ich verstehe nichts. Kein Wort. Verloren zwischen Kennzahlen, Ergebnisrechnungen und Produkten (Ja, das heißt so!) verbringe ich die Weihnachtsferien mit Nachschlagewerken, Anmerkungen und Fragezeichen am Rand. Und ich merke so langsam: Politik ist nicht nur Spaß. Das ist auch harte Arbeit.

Aber heute, anderthalb Jahre nach der Kommunalwahl, macht mir der Haushaltsplan keine Probleme mehr. Ich weiß inzwischen, worum es geht, habe meine erste Rede im Kreistag hinter mir und scheue mich nicht davor, in eine inhaltliche Debatte zu gehen. Auf dem Landesparteitag habe ich vor 200 Delegierten eine Rede zur Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit gehalten. Sogar im NDR habe ich die SPD im Landtagswahlkampf in einer Diskussion zur Bildungspolitik vertreten.

Ich kämpfe für meine Ansichten: Nicht nur in der SPD, sondern auch bei den Jusos – als neue „Regierungsjugend“ haben wir die Chance, wirklich etwas in Niedersachsen zu verändern. Auf dem Bundeskongress der Jusos habe ich junge Leute aus ganz Deutschland kennengelernt, die zwar alle unterschiedliche thematische Schwerpunkte und Ziele haben, aber die eins vereint: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die Grundsätze der SPD. Ich bin stolz, Teil einer 150 Jahre alten Partei zu sein. Und die Begriffe „soziale Gerechtigkeit“ und „Demokratischer Sozialismus“ erklären sich heute für mich wie von selbst. Dafür setze ich mich ein, dafür kämpfe ich. Dafür schlägt mein Herz – mein Herz schlägt links.