Abruf

Ein Tag im Leben des Herrn Meier (Zukunftsvision: Europa 2050)

Ein Beitrag für die Süddeutsche Zeitung von Andree Müller
Herr Meier führt eigentlich ein ganz normales Leben. Er wohnt in einer kleinen Stadt in der Nähe von München. Jeden Morgen fährt er mit der Magnetschwebebahn eine Stunde zu seinem Arbeitsplatz nach Wien. Per Videokonferenz bespricht er mit seinen Kollegen aus Frankreich, der Schweiz und Großbritannien, was zu tun ist. Dann beginnt er mit seiner Arbeit. Herr Meier ist von Beruf Feinmechaniker. In seinem Computer entwirft er die Projekte und schickt sie später an die Fräsmaschine, die sich in einem Gebäude nahe des Eiffelturmes in Paris befindet. Seine Kollegen überwachen dort den Vorgang und schicken ihm dann eine Nachricht, ob bei der Produktion alles normal verlaufen ist.
Als der Gong zur Pause ertönt und Herr Meier sich auf den Weg zur Kantine macht, um mit seinen Kollegen Mittag zu essen, ist er in Gedanken versunken. Er schaut an die Decke zu den Lichtkörpern und staunt. All diese Leuchten, sein Computer, alle Computer dieser Firma, ja selbst seine Kaffeemaschine zu Haus funktionieren nur, weil sie Strom bekommen. Strom aus dem Internationalen Fusionskraftwerk Galilei auf Island. Strom von den Windkraftwerken entlang der norddeutschen, polnischen, und dänischen Küsten. Strom aus Wasserkraftwerken in ganz Europa. Strom aus Solaranlagen in den Staaten entlang des Mittelmeeres und aus dem Balkangebiet.
In der Kantine warten schon seine Kollegen auf ihn. Heute steht etwas besonders leckeres auf der Speisekarte: Frischer Seelachs mit Zitrone und Fritten. Herr Meier macht große Augen. Er setzt sich hin. Gerade als er den ersten Bissen zu sich nehmen will, fällt ihm wieder etwas ein - er scheint heute einen nachdenklichen Tag zu haben.
Dieser Fisch, woher er wohl kommen mag? Herr Meier denkt an seinen Urlaub in Schweden zurück, an die vielen Fischkutter, an die Abgesandten des Europäischen Zentrums für Wissenschaft, die den Fang überwachten. Also aus Schweden, beantwortet er seine innere Frage. Schwedischer Fisch also. Oder doch nicht? Vielleicht kam der Fisch aus dem Mittelmeer oder vielleicht hat er mal die Küste Polens besucht. Herr Meier nimmt sich vor, diese Frage nochmal zu überdenken. Er nimmt die Zitrone und beträufelt den vorerst noch schwedischen Seelachs mit deren Saft. Sonnig gelb ist sie, scheint sogar noch die Wärme Spaniens oder Italiens in sich zu tragen. Herr Meier lächelt. Nachdenklich kaut er auf einem Pommes Frites herum. Auch daheim in Bayern isst er gern welche. Auch als er in Schweden war hat er Pommes gegessen. Die Kartoffeln, aus denen sie gemacht sind, wachsen ja fast überall, überlegt sich Herr Meier. Europäische Fritten, das klingt doch gut.
Er beendet sein Mahl und steht auf. Am Nachmittag, nach getaner Arbeit, sitzt Herr Meier wieder in der Bahn und freut sich schon auf einen gemütlichen Abend mit seiner Frau. Im Fernsehen wird heute ein Fußballspiel aus Mailand übertragen. Von Satelliten, weiß Herr Meier. Von der ESA. Bei seinem Besuch im Weltraumzentrum der International Space Station hat der so einiges gelernt von den "Ariane"-Missionen und so weiter. Damals hat er bereits einen Urlaub auf dem Mond geplant - mit einem Lächeln auf den Lippen und natürlich nur in seiner Phantasie.
Der Zug hält und Herr Meier steigt aus. Mit seinem Auto fährt er nach Hause. Während der Fahrt fällt ihm auf, daß sein Tank fast leer ist. Also hält er an einer Tankstelle am Straßenrand. Während der Treibstoff in sein Auto läuft, schaut er sich um und überlegt. In Zusammenarbeit mit den USA hatten europäische Forscher einen Durchbruch erzielt: Sie entwickelten einen Motor, der vollkommen mit Wasserstoff betrieben wird. Ich fahre also mit Wasser, ganz normalem Wasser, denkt sich der Wartende. Verblüfft über die Dinge, die ihm bisher entgangen waren, die ihm so sonst so selbstverständlich erschienen, kratzt sich Herr Meier am Kopf. Als sein Tank voll ist, steigt er ins Auto und setzt seine Heimreise fort.
Zu Hause angekommen ißt er zu Abend und setzt sich dann vor den Fernseher. Das besagte Fußballspiel beginnt. Vorher wird noch ein Bild eingeblendet: Digitales Europäisches Fernsehen hat es als Überschrift. Herr Meier erinnert sich. Vor vierzig Jahren, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, gab es noch regional begrenzte Programme, die meist analog gesendet wurden und auf eine Sprache beschränkt waren.
Während im Fernsehen schon heftig gekickt wird, spielt Herr Meier mit der Fernbedienung. Er drückt auf einige Knöpfe und wechselt zwischen den Sprachen: Vom seiner Muttersprache Deutsch über das wohlklingende Französisch bis zum tief und gedrungen tönenden Norwegisch. Auch über die gemeinsame europäische Sprache "stolpert" er. So wird also europäisch gesprochen - klingt gut.
Das Fußballspiel ist zu Ende und Herr Meier geht ins Bad um sich für die Nacht fertigzumachen. Er dreht den Wasserhahn auf. Das kühle Naß rinnt aus seinem Hahn, obwohl es noch vor wenigen Stunden im warmen Meer geplätschert hat. Aus einer Meerwasser-Entsalzungsanlage in Griechenland durch Unmengen von Rohrsystem und Klärwerken bis ins nahe gelegene Wasserwerk und schließlich ins Bad. Dann noch auf Herrn Meier.
Er geht ins Schlafzimmer, legt sich neben seine schon schlafende Frau und schlummert friedlich ein. Urplötzlich schreckt er auf. Da war doch noch was? Ach ja! Der Fisch! Vom Mittagessen! Europäisch war er, denkt sich Herr Meier und schließt beruhigt die Augen.