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Freiheit zum Leuchten gebracht – Lichtkunstprojekt mit der JVA Celle

Am 10. Dezember 2022 kommt im Rahmen des Weihnachtsmarktes der JVA ein Projekt zu seinem lang erwarteten Abschluss, das eine außergewöhnliche Zusammenarbeit zwischen Gefangenen der JVA Celle, Kunstschülerinnen des KAV-Gymnasiums, jugendlichen MusikerInnen und dem Lichtkünstler Philipp Geist dokumentiert.

Bereits im Sommer 2021 hatte der Initiator, Pastor und Seelsorger der JVA Celle, Jan Postel, die Idee, das 300-jährige Jubiläum der Anstaltskirche, die am 19. Juni 1721 geweiht wurde, in einer Form zu begehen, die eine Begegnung wiederaufgreift, wie sie schon zu Zeiten der Aufklärung bei der gemeinsamen Gottesdienstfeier von Kirchengliedern der Neustädter Gemeinde und Insassen des Gefängnisses stattfand. Im Mittelpunkt einer gemeinsamen Arbeit soll der vielschichtige Begriff der Freiheit stehen, der einerseits einen hohen Stellenwert im Selbstverständnis unserer Gesellschaft einnimmt und andererseits sehr unterschiedliche individuelle Ansätze zu seiner Veranschaulichung erlaubt. Für eine Visualisierung bietet sich das Medium des Lichts an, mit dem der international renommierte Künstler Philipp Geist professionell vertraut ist und das er in Celle auf den Mauern der Justizvollzugsanstalt inszenieren will. Außerdem bringt er den Gedanken ein, Schüler*innen vor Ort einzubeziehen, die mit den Gefangenen in einen Austausch über Ideen von Freiheit treten.

Dieses Anliegen stößt im Grundkurs Kunst des damaligen 11. Jahrgangs von Frau Schillat auf offene Ohren: Tinka Ende, Ricarda Rettberg, Melissa Röhrbein, Carlotta Siegfried, Lilly Weise und Emma Wojewsky zeigen sich interessiert an einer Projektteilnahme und erhalten die entsprechende Einwilligung ihrer Eltern. Während mehrmaliger Zusammenkünfte mit Häftlingen der JVA in der Anstaltskirche zwischen Anfang September und Mitte Oktober kommen sie über unterschiedliche Sichtweisen und Vorstellungen von Freiheit ins Gespräch und verleihen diesen auf vielfältige Weise künstlerischen Ausdruck. Die entstandenen Malereien, Zeichnungen, Collagen, Texte und Kalligraphien der ProjektteilnehmerInnen dienen Philipp Geist wiederum als Grundlage, daraus eine animierte Lichtprojektion zu entwickeln. Leider muss die ursprünglich für den Dezember 2021 geplante Präsentation des Ergebnisses pandemiebedingt um ein Jahr verschoben werden, was die Spannung bei der abendlichen Feierstunde, zu der Pastor Postel und Anstaltsleiter Thomas Papies nun 2022 einladen, noch umso mehr erhöht.

Im historischen Südhof der JVA Celle, der für die Öffentlichkeit nur selten zugänglich ist, gemahnen die hohen Maste der zu diesem Anlass abgeschalteten Hochsicherheitsstrahler daran, dass die Außenanlage hier sonst äußerst hart und grell ausgeleuchtet wird. Die vom Turmgebäude aus auf die Außenmauer des Anstaltsgebäudes geworfene Projektion nimmt sich im Gegensatz hierzu geradezu sanft aus, wenngleich die reduzierte Lichtstärke in Zeiten der Energiekrise auch Sparmaßvorgaben geschuldet ist.

Vor den Augen der Zuschauer verwandelt sich die Fassade des im französischen Stil erbauten Gefängnisses in ihrer gesamten Höhe und Breite in eine Fläche, auf der sich ein kunstvolles Gewebe aus einzelnen Bildmotiven, Texten, Begriffen und Strukturen entfaltet, die sich teilweise kaleidoskopartig überlagern. Anfangs lösen sich z. B. die klaren geometrischen Formen von vergitterten Fenstern und Türen buchstäblich in Lichtpunkten auf, als würde die undurchdringliche Mauer entmaterialisiert werden. Die Wolkenbänder weiter Landschaften ziehen, untermalt von entsprechenden Liedklängen, vorüber und machen die Sehnsucht nach einem unermesslichen Raum greifbar. Die Gestalt einer Taube überfliegt die Mauer von verschiedenen Seiten, wobei sie nicht nur das Gefühl, sich frei emporschwingen und bewegen zu können, transportiert, sondern natürlich auch die Symbolik des Friedens, ohne den es keine Freiheit geben kann. Abgelöst wird sie unter anderem von einem Schmetterling, der gemäß der traditionellen christlichen Ikonographie als Sinnbild der Verwandlung und Auferstehung Jesu Christi verstanden wird. Erst durch seine Transformation von der Raupe zum Flügelwesen entpuppt sich die wahre Gestalt und Schönheit des Tieres und es erlangt in seinem Schweben eine schwerelose Leichtigkeit. Überdimensioniert wird die organische Spur eines Fingerabdrucks sichtbar, dessen einzelne Linien sich zum Inbegriff der Einzigartigkeit und Individualität zusammenfügen. Schließlich meint Freiheit eben auch dies: man selbst sein zu dürfen und seine persönlichen Potentiale sinnvoll verwirklichen zu können. Wie einzelne ProjektteilnehmerInnen dies auf ihre jeweils eigene Weise verstehen, machen die begleitenden Tonbandaufnahmen deutlich, die während der Projekttreffen eingesprochen wurden. Schließlich beschreibt ein einzelner Begriff, der die Fassadenwand in Leserichtung von links nach rechts in eindrucksvollem Format überspannt, eine konkrete Eigenschaft der abstrakten Freiheit, die gleichzeitig gleichsam einen Wunsch ausdrücken könnte: „Grenzenlos“. Dieser Wunsch nach unbeschränkter Teilhabe, Zugehörigkeit und Begegnung wird hier in solcher Größe zum Leuchten gebracht, dass er für den Moment keinen Platz für Ängste und Vorbehalte gegenüber den Menschen hinter den Mauern mehr lässt.

Vielleicht hat er sich für 3 Projektteilnehmer, die wie von Herrn Postel zu erfahren war, ihre Strafe inzwischen verbüßt haben und wieder frei sind, erfüllt.

Für alle beteiligten LichtkünstlerInnen lässt sich jedoch festhalten, dass das gemeinsame Projekt eine besondere, lohnenswerte Erfahrung war, die uns bewusst gemacht hat, dass Freiheit eigentlich erst dann ihren vollen Wert erhält, wenn nicht nur ein Einzelner sie für sich beanspruchen kann, sondern wenn wir dazu imstande sind, sie miteinander zu teilen.