Abruf

Ein Jahr in Peru

Schon bevor ich mein Abi hinter mir hatte, wusste ich, dass ich unbedingt einmal raus aus Deutschland musste, um Neues zu sehen. Ich bewarb mich für einen entwicklungspolitischen Frei-willigendienst bei „weltwärts“. „weltwärts“ schickt junge Menschen ins Ausland und vermittelt ihnen dort eine Arbeitsstelle. Da es sich meistens um soziale Arbeit in einem Entwicklungs- oder Schwellenland handelt, ist es vergleichbar mit dem gewöhnlichen FSJ, welches die meisten kennen.

Nachdem ich die Bewerbungsphase hinter mich gebracht hatte, erhielt ich ein halbes Jahr später die Zusage. Von da an malte ich mir einiges aus und es sammelten sich Erwartungen und Vorstellungen in meinem Kopf.

Die Entscheidung, in welches Land ich gehen sollte, traf die Organisation für mich, und sobald ich die Nachricht erhielt, dass ich nach Peru fliegen würde, freundete ich mich mit dem Gedanken an ein Leben in diesem Land sofort an. Plötzlich war da nur noch Peru, Peru, Peru... Wie wird wohl meine Gastfamilie in Peru sein? Was für ein Wetter ist wohl in Peru? Was isst man wohl in Peru? Muss ich da auch Meerschweinchen essen?

Informationen über meine Gastfamilie oder meine Arbeit dort bekam ich erst auf den letzten Drücker zugesendet, um genau zu sein zwei Wochen, bevor es losgehen sollte. Als es dann aber endlich so weit war und die Koffer gepackt im Flur standen, wurde mir erst wirklich bewusst, dass ich mich für ein ganzes Jahr von Familie und Freunden verabschieden musste.

Sobald ich mich mit den anderen Freiwilligen am Flughafen traf, war der Kummer über den Abschied von meiner Familie erst einmal aus meinen Gedanken verschwunden und die Vorfreude auf das, was mich erwarten würde, wurde durch die Gespräche mit den anderen Jugendlichen immer größer.

Nach einer langen Reise kamen wir in der Hauptstadt Lima an, hatten zum ersten Mal die peruanische Währung, den Nuevo Sol, in der Hand, sprachen die ersten Brocken Spanisch und verstanden zum ersten Mal nur Bahnhof.

Wir nahmen an einem Arrival-Camp teil, in dem wir noch ein bisschen auf die peruanische Kultur vorbereitet wurden, und am nächsten Tag fuhr ich mit drei weiteren Freiwilligen nach Trujillo. Trujillo ist die drittgrößte Stadt Perus und liegt neun Stunden nördlich von Lima an der Küste.

Meine Gasteltern und meine Gastschwester holten mich am Busbahnhof ab und in den ersten Stunden war die Situation doch etwas merkwürdig. Ich konnte mich nicht so gut verständigen und meine Familie plauderte auch nicht gerade aus dem Nähkästchen. Doch schon beim Frühstück am nächsten Morgen und mithilfe einiger Lektionen über die peruanische Küche (darüber reden die Peruaner immer gerne) taute das Eis nach und nach auf.

Die ersten Wochen vergingen rasend schnell. Alles war so aufregend und fremd, dass ich jeden Abend kaputt ins Bett fiel.

Was meine Arbeit angeht, da konnte ich anfangs noch nicht so viel ausrichten. Ich war eigentlich mehr anwesend, um zu beobachten, als dass ich wirklich eine Funktion gehabt hätte. Mein Arbeitsplatz war in einem Kindergarten im Armenviertel „Villa Los Angeles“. Es gab 12 Kinder im Alter von 3 bis 8 Jahren, die von einer Lehrerin, einer Kindergärtnerin und zwei weiteren Freiwilligen aus den USA betreut wurden. Ziemlich viel Personal für so wenig Kinder; da war für mich nicht viel zu tun. Dies merkten meine Chefs irgendwann und meine Arbeit wechselte vom Beobachten zu einer anderen sinnlosen Tätigkeit, wie zum Beispiel dem Übersetzen eines peruanischen Artikels ins Deutsche.

Die Arbeit hätte mich eigentlich sehr frustrieren müssen, doch ich war schon so begeistert von der peruanischen Kultur und der Gastfreundschaft der Menschen, dass ich die Situation in meinem Job erst einmal so hinnahm. Die peruanische Gesellschaft ist auffällig freundlich und lebendig. Kaum schlage ich die Tür meines neuen Zuhauses zu, werde ich sofort eingenommen vom Lärm der Menschen und vom Chaos auf den Straßen. In meinem ganzen Jahr fand ich dieses Chaos nie nervig, sondern habe es immer als erfrischend empfunden. Das bunte Leben in Trujillo hat auch dafür gesorgt, dass ich mich so schnell in meiner Stadt eingelebt habe.

Als mir meine Gastmama eines Tages einen Haustürschlüssel anvertraute, freute ich mich sehr, da sie bis dahin doch immer sehr misstrauisch war und mich viel kontrollierte. Doch nun, mit dem Schlüssel, übergab sie mir ein großes Stück meiner Freiheit. Wen man in Deutschland 18 Jahre alt ist, hat man seinen Alltag selbst in der Hand, es wird erwartet, dass man auf eigenen Beinen steht, doch in Peru bedeutet Volljährigkeit sehr wenig. Das sah ich an meiner Gastschwester, die mit zwanzig Jahren für alles die Erlaubnis ihrer Eltern einholen musste und noch nie alleine ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt hatte.

Mit der Zeit wurde nun auch meine Arbeit viel interessanter. Ich hatte inzwischen viel zu tun und um die Weihnachtszeit herum empfand ich sogar so etwas wie Stress. Schon Wochen vor Weihnachten bereiteten wir alles für ein Fest in „Villa Los Angeles“ vor, bei dem bis zu 150 Kinder beschenkt werden sollten. Zudem sammelten wir Kleidung für die Familien und Nahrungsmittel für die Essenszubereitung. In dieser Zeit bin ich von einem Supermarkt in den nächsten geschickt worden, um Dokumente einzureichen und um Gaben zu bitten.

Als das Weihnachtsfest vorüber war, waren wir alle sehr erleichtert, dass alles gut geklappt hatte, jedes Kind am Ende ein Geschenk in der Hand hielt und sich die viele Arbeit nun doch noch gelohnt hatte.

Immer, wenn ich in den Kindergarten nach „Villa Los Angeles“ ging, war es, als ob ich auf dem Weg dorthin in ein anderes Land reiste. Meine Gastfamilie lebt in Peru sehr gut und ich wohnte in einem sehr reichen und sicheren Viertel. Vor den Häusern stehen Securities und die Straßen werden von ordentlichen Blumenbeeten durchzogen. Dass es in der modernen Stadt Trujillo noch viel Armut gab, merkte ich erst, wenn ich den langen Schotterweg zum Kindergarten entlangging. Neben den Reisfeldern stehen die Wellblechhütten der Bewohner von „Villa Los Angeles“. Manche haben schon richtige Häuser aus Beton oder Ziegelsteinen und sie haben nur Glück, dass es in Trujillo sehr selten regnet, denn die Häuser haben auf dem staubigen Boden kaum Halt, so dass sie nach einem kräftigen Schauer zusammenfallen würden.

Ich erinnere mich daran, dass ich mit meiner Chefin eines unserer Mädchen besuchen ging. Wir wollten mit ihren Eltern sprechen, da dieses Mädchen mit sieben Jahren noch keine Ausweispapiere besaß. Es war nicht in einem Krankenhaus geboren, so dass weder eine Geburtsurkunde ausgestellt wurde, noch wurde das Baby nach der Geburt geimpft.

Es stellte sich heraus, dass das Mädchen bei ihrer schon etwas senilen Oma wohnte, und die Zustände im Haus waren schlimm. Zwar blickte ich nur flüchtig in den Wohnraum, aber die Gerüche und Bilder, die ich wahrnahm, schockierten mich. Unter dem Esstisch lag neben ein paar toten Ratten auch ein toter Hund. Der Eimer, der als Toilette diente, stand direkt daneben. Wenn ich heute daran denke, ekle ich mich immer noch sehr und wie man unter solchen Bedingungen leben kann, ist für mich unverständlich.

Im Mai habe ich eine große Reise durchs Land gemacht. Ich habe unheimlich viel gesehen und erlebt. Angefangen in der Andenstadt Cuzco und dem berühmten Machu Picchu, ging es weiter mit drei Tagen Tropenregen im Dschungel Perus, zum Titicacasee nach Puno, zu den Schilfinseln der Urus und schließlich auf 5000 Höhenmeter auf dem Weg nach Arequipa.

Mein schönstes Reiseerlebnis machte ich auf der Insel Amantaní im Titicacasee. 400 Leute leben auf der Insel ein sehr einfaches Leben. Hier wird noch das alte Quechua gesprochen und der Hauptarbeitszweig ist die Landwirtschaft. Es gibt zwar elektrisches Licht, aber weder eine Dusche noch eine richtige Toilette. Für einen Tag und eine Nacht durfte ich das Leben der Amantaní- bewohner kennenlernen. Es war eine tolle Erfahrung, doch nach den 24 Stunden wusste ich, dass ich so ein Leben nicht führen wollte. Der Alltag meiner Gastfamilie wirkte trostlos und hart. Der Gastvater konnte am Abend kaum aufrecht auf seinem Stuhl sitzen, da er so müde von der Feldarbeit war, und das Leben der Mutter bestand hauptsächlich darin, in der dunklen engen Küche auf einem Baumstumpf zu sitzen und zu kochen, sich um den Haushalt zu kümmern oder um die Schafe.

Während meiner Reise habe ich Peru noch besser kennen und lieben gelernt. Es ist so ein facettenreiches Land, doch diese herzliche Gastfreundschaft ist überall gleich.

Elf Monate war ich insgesamt in Peru und die Zeit verging rasend schnell. Nach den ersten zwei bis drei Monaten der Eingewöhnungszeit habe ich mich nach und nach an das peruanische Leben angepasst und mir auch die eine oder andere Eigenart angewöhnt. So zeichne ich mit erhobener Hand eine imaginäre Linie in die Luft, wenn ich im Restaurant nach der Rechnung frage, und gucke beim Gehen stets auf den Boden, um nicht in einen offenen Schacht zu fallen. Auch bin ich sehr unpünktlich und unzuverlässig geworden. In Peru muss man sich bei einem Termin auf mindestens eine halbe Stunde Verspätung einstellen. Nachdem ich die ersten Male immer ewig warten musste, habe ich die Erfahrung gemacht, dass es klüger ist, selbst immer 40 Minuten nach dem vereinbarten Termin am verabredeten Ort einzutreffen.

Doch all das habe ich mir, zurück in Deutschland, schnell wieder abgewöhnt. Es ist leicht, wieder in seine alten Gewohnheiten zu verfallen, und die „deutsche Pünktlichkeit“ hat mich wieder fest im Griff. ;-)

Aber ich habe auch sehr viel Positives mit nach Deutschland genommen. Ich habe viel verstanden in diesen elf Monaten, was ich vorher nicht wusste: Wieso schmeißen so viele Peruaner ihren Müll auf den Boden? Weshalb haben die ärmsten Familien die meisten Kinder? Warum haben nur zwei Personen aus dem ganzen Viertel „Villa Los Angeles“ die Schule beendet? Wieso gibt es in Trujillo mehr Organisationen, die Straßenhunde versorgen, als Organisationen, die sich um die Bildung oder die Gesundheit der Menschen kümmern? Auch wenn wir den Kindern in „Villa Los Angeles“ wahrscheinlich nicht viel mehr beibringen konnten, als sich die Hände vor dem Essen zu waschen, hat mir der Kontakt mit den Kindern gezeigt, dass so ein Freiwilligendienst wirklich eine gute Sache ist.

Ich bin traurig, dass meine Zeit in Peru so schnell vergangen ist, und würde so einen Freiwilligendienst im Ausland immer wieder machen. Mein nächster Peru-Aufenthalt ist schon in Planung!