Abruf

"Die Zeit nach dem Abitur, das ist die aufregendste eures Lebens!"

Mit solchen oder ähnlichen Sätzen im Ohr fieberte man dem Ende der Schulzeit entgegen.

„Endlich“, zischte mir eine Freundin mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu, als sie sich mit dem Abi-Zeugnis in der Hand neben mich stellte. Endlich. Endlich frei und tun und lassen, was man wollte! Auf in Abenteuer, die etwas weniger vorausschaubar sind als Feiern im Inkognito – oder bestenfalls in Hannover.

Doch so cool, wie die laut feiernden Abiturienten immer wirkten, fühlte es sich dann doch nicht an. Die Freundin, die euer halbes Leben mit euch verbracht hat, wird in einer anderen Stadt wohnen und nicht zwei Straßen weiter, die Sportgruppe hat sich schon überlegt, wer euch ersetzen wird. Es fühlt sich seltsam an. Entscheidungen müssen getroffen werden und die nun kommende Eigenständigkeit ist etwas Erstrebenswertes, Cooles – aber es weckt auch die Angst, nicht zu bestehen in der Welt ‚da draußen‘, außerhalb des Schutzraumes Eltern und Schule.

Und was, wenn man nicht gut genug ist? Eine falsche Richtung einschlägt? Zeit vergeudet? Dinge nicht schafft? Eine Ausbildung? Ein Studium?

Ich entschloss mich, meine Ersparnisse auszugeben und ein Jahr durch Thailand und Australien zu reisen und ‚Work und Travel‘ in Neuseeland zu machen. Die Reise ging mit zwei Schulfreundinnen, Marieke und Anne, los. Ohne eine Organisation (Das ist zu empfehlen!), ohne Hostel (kein Problem), dafür mit viel zu vollen Backpacks (großes Problem) landeten wir bei 41° im Schatten in Bangkok. Es roch nach Müll und exotischem Essen. Dann begann es zu regnen. Wir tanzten vor Glück durch die Straßen.

Das, da waren wir uns einig, ist Freiheit, von der wir geträumt hatten.

In Asien reist es sich leicht. Die anderen Backpacker fanden uns lustig, zu jung, süß, und wir waren umgeben von einem Netz aus Hilfsbereitschaft. Englisch, der Albtraum meiner Schulzeit, kam schon nach wenigen Tagen deutlich weniger holprig aus meinem Mund. Irgendwie musste man sich ja auch mit den netten Schweden, Franzosen, Iren und Australiern unterhalten.

Das „Working Visa“ für Neuseeland zu holen hatte in Deutschland Nerven und Zähneklappern gekostet. In Asien holte ich mir dann spontan das Working Visa für Australien und buchte meinen Flug um. Von einer Weltreise, wenn man sie richtig macht und sich nicht nur von einer Tour zur nächsten bucht, kommt man nicht als derselbe Mensch zurück.

Schwedische Lieder, Segeln, Surfen, Sushi-Machen und so vieles mehr lässt sich lernen, vor allem aber bekommt man die Gewissheit, dass man sich ohne fremde Hilfe durchschlagen kann, und dass hoffnungslose Momente niemals eine Sackgasse sind.

Eine Reise kann sehr glücklich machen, und dieses Glück bleibt – zusammen mit einer Sehnsucht nach Ferne.

Mein Auslandsjahr endete – spontan – in Israel und Palästina. Anne war übrigens zum Ende des Jahres – spontan – Kinderanimateur auf den spanischen Balearen und Marieke bereiste Frankreich. Ich denke, das spricht für sich.

Zurück im schönen Celle fiel mir die Decke auf den Kopf.

Ich wollte studieren, das wusste ich jetzt, und ich wollte eine Herausforderung, so schrieb ich mich für Maschinenbau in Berlin ein (Zitat meiner Mutter: „Maschinenbau?! Das ist nicht dein Ernst!“) und organisierte mir mit der Hartnäckigkeit, die ich in Australien bei der Jobsuche gelernt hatte, innerhalb eines Tages einen Praktikumsplatz.

Das Studium begann kurz darauf. Es dauerte lange, bis ich mich in Berlin eingelebt hatte. Ein naturwissenschaftliches Studium verlangt viel, und Berlin ist groß und manchmal einsam.

Zum Glück geht es allen Erstsemestern ähnlich, unsicher beäugt man sich und überlegt, mit wem man wohl gut das angekündigte Testat zusammen erarbeiten kann. Natürlich fängt man damit viel zu spät an. Das hat auch Vorteile – nachdem man nach drei durchgearbeiteten Nächten mit Energydrink und Lieferpizza fünf Minuten vor Abgabeschluss zusammen durch die Uni gerannt ist, hat man Freunde gefunden. Willkommen im Studentenleben.

Ob mein Studium die richtige Wahl für mich war? Wahrscheinlich. Ich wäre bestimmt auch mit anderen Fächern glücklich geworden, aber ich fühle mich hier wohl und das Studium macht Spaß.

Maschinenbau ist ein anspruchsvoller, aber auch sehr abwechslungsreicher Studiengang, man kann damit später in die unterschiedlichsten Bereiche gehen, hinter fast jeder Produktion und Entwicklung stecken Maschinenbauer – von Lebensmitteltechnologie über Medizintechnik bis hin zu Autos. Ich würde den Studiengang jedem mit Interesse an Naturwissenschaften empfehlen. Frauen sollten besser an die Universitäten gehen, die Fachhochschulen sollen zwar leichter sein, aber ich hab schon haarsträubende frauenfeindliche Geschichten gehört. Hier merke ich davon nichts. In Berlin ist die Frauenquote auch ein bisschen höher als in anderen Städten, trotzdem ist es ein ‚Männerstudiengang‘. Lasst euch davon nicht abschrecken! Nach einigen Jahren Mädchenklasse am KAV sind Männer angenehm unkompliziert (interessanterweise kommen die meisten Mädels hier von Mädchenschulen).

Ich habe etwas eingesehen, das mir in meiner Schulzeit unmöglich erschien – dass es mehr als nur einen richtigen Weg gibt, und deshalb kann ich auch vor wichtigen Entscheidungen eine gewisse Gelassenheit behalten.

Die Zeit nach dem Abitur ist wahrscheinlich wirklich die aufregendste Zeit des Lebens. Das ist auch gut so, denn nur so lässt sich die bequeme Sicherheit von Mamas Küchentisch leicht verlassen.

Macht euch nicht zu viele Sorgen und versucht nicht, wie ich vor drei Jahren, jede Entscheidung mit allen Konsequenzen zu durchschauen. Das funktioniert (leider) nicht.

Neulich fragte mich ein Kommilitone, ob ich mich nicht als Exot fühle, zwischen all den Männern. Irgendwie tue ich das, aber dann ist mir aufgefallen, dass es einen ganz anderen Unterschied zu meinen Freunden gibt – fast alle kommen aus reichen oder wenigstens akademischen Familien.

Auch in Australien ist mir aufgefallen, dass die meisten deutschen Backpacker aus Papis und Mamis Geldbörse reisen. Das ist ziemlich schade und hat mich motiviert, diesen Artikel zu schreiben:

Geht eure eigenen Wege. Bis zu dem jetzigen Punkt hat das meiste in eurem Leben damit zu tun, was eure Eltern für gut und richtig hielten. Aber nur weil eure Eltern nicht studiert haben, heißt das nicht, dass ihr nicht studieren dürft. Nur weil sie etwas Soziales machen, heißt das nicht, dass ihr nichts Technisches machen könnt. Nur weil sie Europa nie verlassen haben, heißt das nicht, dass ihr keine Weltreise machen könnt.

Man wird unsicher, wenn keiner in der Familie oder im Bekanntenkreis da ist, der einem erzählt, wie ‚Studieren‘ oder ‚Reisen‘ funktioniert und einem Mut zuspricht – deswegen möchte ich euch hiermit Mut zusprechen: Wenn ihr etwas machen wollt, dann macht es. Es wird nicht immer purer Sonnenschein sein, und ihr werdet euch manchmal durchbeißen müssen und erkennen, dass ihr eure Grenzen erreicht. Aber das meiste funktioniert von allein, wenn man erst mal den ersten Schritt gemacht hat, und ich bin mir sicher, dass ihr nichts bereuen werdet.

Alles Gute dabei!